1: Timbuktu
Timbuktu. Ein wohlklingendes Wort. Fremdartig und verheißungsvoll. In ihm klingen die Ferne und unsere Abenteuerlust zusammen. Timbuktu ist eine Stadt, die in der Welt der Wirklichkeit existiert, und dennoch trägt ihr Name unsere Imaginationen in sich. Alle kennen Timbuktu, trotzdem liegt Timbuktu ähnlich fern ab einer wirklichen Geografie wie Atlantis, Arkadien oder Eudossia. Timbuktu ist in unserer Sprache, unserem Denken zur Metapher geworden.
Pauline Kraneis beschäftigt sich in ihren neuesten Arbeiten Tarmac mit dem Fliegen und der vom Menschen geschaffenen Geografie des Flugverkehrs. Sie zeigt Flughäfen die nicht, kaum mehr oder unter schwersten Bedingungen angeflogen werden. Sogenannte Geisterflughäfen. Von oben, aus der Perspektive der Fliegenden, sehen wir Orte, an denen ein Landen und Ankommen einst möglich war. Heute aber wird keine Landebahn mehr gepflegt, kein Bodenpersonal würde uns empfangen. Wir halten uns also in der Luft, in der Ziellosigkeit kreisend. Die Landebahnen, die Führungen auf dem Rollfeld, verlieren an konkreter Bedeutung und werden zu Mustern fiktiver Bewegung. Eine Art Spielbrett ohne Anleitung, ohne Figuren.
Der Name Timbuktu ist zur Metapher für unsere verfehlte Orientierung in der Realität und für die Verbindung von Sehnsucht und Fantasie geworden. Selbst jetzt, wo wir über dem leeren Rollfeld kreisen und eigentlich wissen könnten, dass Armut, Korruption und Krieg Ursachen der Verödung sind, klingt Timbuktu noch nach Erfüllung. Die tatsächliche Stadt Timbuktu in Mali ist aber trotzdem noch da, obwohl die Wüste sie langsam aber sicher zurückholt und obwohl wir diese triste Wirklichkeit mit unserem Sehnsuchtsgebilde zu verdrängen versuchen. Genau auf diese gefühlsgesteuerte Verschiebung von Orten und Namen auf unseren inneren Atlanten verweist die Arbeit Tarmac (Timbuktu). Pauline Kraneis aktiviert die Mechanismen unserer Wahrnehmung. Timbuktu, so sehr wir auch nachlesen und forschen, liegt in unserer Fantasie fester verankert als nördlich des Flusses Niger und südlich der Sahara. Nur dass wir jetzt von dieser Wahrheitsverschiebung wissen und die Möglichkeit entsteht, eine Korrektur vorzunehmen. Oder sich bewusst dagegen zu entscheiden und Timbuktu als Begriff für unser Fernweh zu erhalten. Die Bilder Kraneis sind ein Angebot der Revision.
Die Serie Tarmac ist als Druckgrafik entstanden und damit in einem für Pauline Kraneis neuen künstlerischen Verfahren. Dennoch sprechen diese Geisterflughäfen exemplarisch für ihre gesamte künstlerische Arbeit, sowohl kompositorisch als auch inhaltlich. Die Tarmacs stellen als grafische Arbeiten eine Erweiterung des Spektrums und die Grenzen zeichnerischer Methoden dar. Die grafischen Arbeiten deuten zugleich auf zwei zeitliche Bewegungen: auf den Moment des Druckens und auf die Bewegung, die diesem vorausgehen, die zeichnerische Bearbeitung des Druckstockes. Der Druckstock ist eine in sich fertige Zeichnung, führt aber zugleich, mit einem gewissen Eigenwillen, die Bildentstehung fort. Die Künstlerin gibt das Bild somit ein kleines Stück aus der Hand und lässt den Zufall und das Glück mitwirken. Darin ist wichtig zu sehen, dass Kraneis eine Zeichnerin ist, aber eben nicht ausschließlich zeichnet. Ebenso intensiv sammelt sie Bilder. In Fotografien und Installationen stellt sie Bezüge her, die die Realität in ihren Zeichnungen einerseits einbindet, andererseits aushebelt. Sie schneidet, verbindet und verlegt Bildfragmente, baut neue Räume. In der Aneignung verschiedener Methoden reflektiert und definiert sie in ihrer Arbeit das Zeichnen als Medium. Was ist eine Zeichnung? Die Antworten, die wir von Pauline Kraneis bekommen, sind klar: Das Zeichnen ist ein Zeitmedium. Die Zeichnung verrät immer auch etwas über ihre Entstehung. Gleichzeitig, und das erzeugt die angehaltene Spannung in den Arbeiten, geht diese deutliche Antwort immer mit einem ebenso deutlichen Hinterfragen einher. Es wird uns vermutlich nie gelingen, unsere Zeitwahrnehmungen mit denen der anderen nachweisbar in Einklang zu bringen. Aber wir werden bestimmt nicht aufhören es zu versuchen, weil es den meisten ein Wunsch ist, sich miteinander zu verbinden. Räumlich wie zeitlich. Von diesem Versuch der Verbindung unserer Wahrnehmung erzählen die Arbeiten Kraneis.
In den Tarmacs werden drei zentrale Aspekte deutlich, welche das Werk von Pauline Kraneis definieren. Erstens sind ihre Arbeiten zeitbeschreibende Ereignisse. Sie beschreiben einen Gedanken- und Entstehungsweg, aber bilden auch den Moment unserer eigenen Verortung im Bild ab (Wir sind in Mali. Werden wir hier empfangen?). Dass die Zeit zentrales Thema ist und Momentaufnahmen sich uns einprägen, steht in Verbindung mit zwei weiteren Aspekten, die unsere Position als Betrachter bestimmen. Wir halten uns immer auf einem gewissen Abstand zum Motiv (Wir fliegen über Timbuktu). Der Bildgegenstand – ob Ding, Ort oder Struktur – wird von seiner Umgebung isoliert (Das Flugfeld ist selbst zum fliegenden Objekt geworden, ohne Umgebung scheint es vom Blatt abzuheben). Isolation ist nahezu Grenze, auch im kompositorischen Sinne. Zwei Dinge zugleich: Respekt, Schutz und besondere Beachtung, aber auch Vereinsamung und Abschottung. Die Isolation, das Ein- oder Ausgrenzen von Elementen und Motiven, verweist auf das, was nicht ist, woanders ist, wann anders war, ist oder sein wird.
Über die Lücke, durch die Leere, in der Stille und dem präzise gewählten Abstand des Betrachters zum Motiv verweisen die Arbeiten Kraneis auf etwas, das im Bild nicht da ist: den Menschen. Die freigelegte Landebahn zeichnet unseren Bewegungsdrang und den Hunger nach hemmungsloser Landgewinnung nach. Wir sehen unsere Spuren, die hinterlassenen Brachen als Abbild unserer Träume und Gelüste. Timbuktu ist eine Metapher, in der wir uns selbst gespiegelt finden. Now who is lost and what is found?
II: the notes you don’t play
Im Jahr 2004 geschah es. Vielleicht auch noch mal 2007. Dann wieder 2015 und 2017. Nicht nie, aber sehr selten zeichnet Pauline Kraneis Menschen. Dabei sind die Menschen aus ihren Arbeiten nicht wegzudenken. Wie wir leben, wer wir sind, das sind Fragen, die Kraneis – nicht nur aus biographischer Neugierde, sondern auch als Grundlage einer Soziologie der Stadtmenschen – in ihrer Arbeit stellt. Im Jahr 2004 zeichnete Pauline Kraneis eine Person. Oder genauer gesagt, man sieht im Bild die Umrisse zweier Menschen in einer häuslichen, privat anmutenden Umgebung. Plazidus, ruhig, friedlich, so lautet der Titel des Bildes, einer kleinen Bleistiftzeichnung auf Papier. Der Raum ist still, tatsächlich friedlich. Menschenleer. Ein Begriff der im Betrachten der Bildreihe Innenraumfragmente, zu der diese Zeichnung gehört, neu konnotiert wird.
Die Isolation der Personen geschieht über die sorgsame Loslösung aus dem Bild. Die Menschen, die sonst in ihrem Wohnraum in der Bildmitte gefangen unseren Blicken ausgeliefert wären, wurden in die Freiheit ihrer Vergangenheit und unserer Vorstellungswelt entlassen. Der voyeuristische Blick in die Räume anderer Menschen, den wir über Reality-Shows und Einrichtungsmagazine instinktiv pflegen, bleibt bestehen, aber Pauline Kraneis nimmt den Menschen in Schutz, indem sie ihn nicht zum Objekt im Bild werden lässt. Isolation und Distanz. Hierin findet sich eine Haltung größten Respekts den Personen aber auch den Dingen gegenüber. Ihnen wird ein Eigenleben zuteil, das in Anwesenheit ihrer Besitzer nicht möglich wäre. So treten im Raum von Maria ihre Zimmerpflanzen in den Vordergrund und im Stilleben Sternwartestraße aus dem Jahr 2016 kommt uns ein Sofatisch mit spiegelblanker Oberfläche entgegen. In den Arbeit ensemble mobilier, 2014 und ensuite (mit Weidenmond), 2016 sind jeweils ein plissierter Lampenschirm und ein Weidenobjekt die Protagonisten, die Bewohner, der jeweiligen Bildräume. Wir müssen oft blinzeln und mehrfach schauen. Wo beginnt der Raum und wo endet er? Was ist im Vordergrund und was lenkt unseren Blick? Fragen, die wir nie beantwortet kriegen, ohne uns selbst mit einzubringen. Denn wir sind die, die im Zweifelsfall die Lücken füllen könnten, mit Fragmenten, Puzzleteilen aus unserem eigenen Gedächtnis, aus unseren privaten Bildkatalogen. Aber auch aus unserem sensorischen Apparat. Denn sind wir nicht alle mal barfuß über einen Teppich gelaufen und wissen, wie sich die kurze Wolle unter den Fußsohlen anfühlt? Wir wissen, wie Korbsessel knirschen können. Wir wissen, wie ein Straßenverlauf dazu einlädt, auf den weißen Streifen oder der Bordsteinkante zu balancieren und nicht daneben zu treten. Die Aussparungen, die Leere, die Lücken in dem Bild aktivieren unser Gedächtnis und unsere Sinne.
Im Jahr 2004 entstand auch das kleine Aquarell Insel, der Verschnitt einer urbanen Verkehrssituation. Zwei sehr kleine Figuren überqueren oder begehen eine losgelöste, schwebende, schlangenlinienförmige Straße, die in eine Art Fußgängerzone mündet und endet. Wenig unterscheidet diese Figuren von dem Verkehrsschild, das darin ebenso vorkommt. Starr sind sie. Wie Spielfiguren auf einem Brett. Es ist fast genau so still wie in den menschenleeren Räumen. Das Bedürfnis zu Sprechen hindert nicht nur am Hören sondern auch am Sehen… so stellt der Erzähler in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fest, als er bei einem seiner vielen Besuche in einem Pariser Salon vor lauter Mitteilungsdrang seine Umgebung weder so recht hört noch sieht. Fragmentarisch seine Wahrnehmung. Zu laut die Umgebung, zu laut auch die eigene innere Stimme. Dass die Sinne zusammenwirken ist keine neue Erkenntnis. Dennoch scheinen wir mehr noch als früher von Impulsen gesteuert, dem „zu viel“ ein „noch mehr“ entgegenzusetzen. Gegen die laute Stadt versuchen wir mit Musik in den Ohren vorzugehen. Gegen die vielen Mitteilungen, die uns überfluten, wehren wir uns, indem wir unsere Nachrichten in die Welt versenden. Und gegen zu viel Gerede setzen wir unsere Stimme ein.
Es geht in den Arbeiten Kraneis also nicht nur um räumliche Fülle oder Leere, sondern auch um die laute Welt und notwendige Stille. Erst durch die Pause entsteht aus dem Geräusch und dem Rauschen die Musik. It’s not the notes you play, it’s the notes you don’t play, so hat Miles Davis die Entstehung von Musik beschrieben. Die Pausen, das ist die Luft zum Atmen, die Stille, das ist der Raum zum Hören der Musik. Musik beschreibt die Zeit und spannt zwischen Gedächtnis und Erwartung einen Bogen in dem wir uns mit der Musik bewegen. Eine solche Bewegung zwischen den Zeiten – der Vergangenheit, dem Augenblick und der Zukunft – finden wir auch in den Arbeiten von Pauline Kraneis. Die Lücke im Raum brauchen wir, wie die Pause in der Musik, damit sich diese Verbindung ereignen kann, damit wir sie als Ereignis erkennen können. John Cage, ein weiterer Meister der Pause, hat gesagt, dass der Mensch Raum und Zeit nur schwer zu unterscheiden weiss. Cage hat in seinen Kompositionen die Pause – die Stille – so lang werden lassen, dass der gespannte Bogen nicht gehalten werden konnte. Die Zeit, die wir linear sahen, verlor Anfang und Ende. Wenn die Zeit nicht länger linear wahrnehmbar ist, dann müsste sie rund geworden sein: wie die Erdkugel, wie der Raum, ein Punkt. Ein Ort. Now what is lost and who is found?
III: Meine eigene von den Milliarden Einsamkeiten…
In der Literatur bezeichnet der Begriff narrativer Modus einen Erzählstil, in dem nicht-sprachliche Ereignisse dem Leser durch einen Erzähler vermittelt werden. Dieser betrachtet die unmittelbaren Geschehnisse aus einer gewissen Distanz und gibt sie ergänzt durch eigene Sichtweisen wieder. Der genau bemessene Abstand in der Narration gewährt, im Gegensatz zum dramatischen Dialog in direkter Rede, Überblick über die Geschehnisse. So führt uns auch Pauline Kraneis durch Räume und Städte, über Länder und Landschaften. Wir blicken zwar in private Räume, aber immer aus einem präzise gewählten Abstand. Nie kommen wir zu nah. Obgleich die zeichnerische Präzision Detailarbeit und der Arbeitsprozess intim ist. Die emotionale Wertigkeit der Bildräume wird bestimmt vom Abstand des Betrachters zum Gegenstand der Erzählung. Kraneis sorgt sich um den Bildgegenstand genauso wie um den Betrachter, wenn sie den Abstand festlegt. Und dieser ist immer von Respekt getragen, nie anmaßend. Nicht zuletzt weil der Abstand häufig unbestimmbar bleibt. So ist in der großformatigen Tuschezeichnung Istiklal nicht klar, wie nah wir den Menschen auf der anderen Seite der leichten Gardine sind. Wir spähen hinaus und sehen mehrere schattenhafte Personen in Bewegung. Wobei: Spähen können wir gar nicht. Das große Format lässt uns die Personen im Bild erst auf Abstand erkennen. In zu großer Nähe ist da nur ein Muster, die Gardine. Das Bild verschließt sich und mit ihm der klare Blick in die Welt. Unbestimmbar auch der Fokus beim Betrachten der Wandarbeit Sofronia. In dieser Arbeit wird ein fragmentiertes, grafisch kondensiertes Teppichmuster so dargestellt, dass unser Blick zwischen den schwarzen und den weißen Bildelementen wandert. Die Arbeiten sind oft Kippbilder, in denen durch ein präzises Balancieren der Elemente mehrere Ebenen im ständigen Wechsel den Vordergrund bestimmen.
Nicht allein die narrative Form sondern auch das poetologische Anliegen von Pauline Kraneis zeichnet eine Nähe zur Literatur. Ihre Werke bieten immer auch Erkenntnis über die Wegfindung in der künstlerischen Arbeit und verhandeln dabei ihre eigene Formensprache. Bestimmte Formate, Techniken und vor allem Bildthemen kehren immer wieder, jedes Mal mit einem leicht veränderten Ansatz. Die Verbindung von Muster und textiler Fläche ist zum Beispiel ein zentrales Thema. Man könnte sagen, das Werk Kraneis umfasst so etwas wie eine kleine Poetik textiler Architekturen. In dem Buch Die vier Elemente der Baukunst (1851) erläutert der Architekt Gottfried Semper den Zusammenhang zwischen Textil und Architektur. Semper folgend beginnt die Architektur mit der Hülle, nicht mit einem konstruktiven Kern. So sind die Bekleidung, die uns umhüllt, Teppiche und Zelte und die geflochtenen Zäune, die uns schützen, erste Formen dessen, was wir heute als Architektur begreifen. Auch Kraneis zeichnet eine klare Beziehung zwischen Textil und Architektur. Textile Flächen oder Faltungen werden raumbildend, umhüllen jedoch nicht den Menschen, sondern breiten sich begehbar vor uns aus, werden zu Landschaftsarchitekturen oder städtebaulichen Plänen. So bildet zum Beispiel in Plattform1eine blau-weiss karierte runde Tischdecke eine Art topographische Karte und lädt zugleich als freischwebendes Bildelement zum Begehen oder Wegfliegen ein. Auch die großformatige Bleistiftarbeit Ghasgai und die Zeichnung Yayla, die Detailaufnahme eines Teppichs, spielen mit einem Wechseln zwischen Stabilem und Beweglichem, Fläche und Form. Auch als Hülle oder Schwelle zwischen Innen und Aussen kommen Textilien in der Poetik Kraneis vor. Meistens sind diese semi-transparent. So blicken wir in Istiklal durch Vorhänge auf die Einkaufsmeile in Istanbul und in der Arbeit Gardine 4 (Autobahn) schauen wir durch den Vorhang aus dem Fenster eines fahrenden Autocampers auf die Straße, die hinter (oder vor) uns liegt. Immer wieder verweisen die textilen Motive auf das Bühnenhafte eines Lebens, das wir aus der Distanz betrachten. Der Vorhang ist ein Schutz. Das Geschehen findet auf der jeweils anderen Seite statt. Doch ist ein Vorhang leicht zur Seite gezogen – wir wären mittendrin.
Wir stehen hinter dem Vorhang, bleiben respektvoll auf der Schwelle zum Raum, oder blicken von oben runter. Mittendrin sind wir so gut wie nie. Die Ausnahme bildet eine besondere Arbeit: Munro, eine Installation aus 80 weißen A4-Blättern mit blauem Kugelschreiber bezeichnet, 2003 in der Galerie M+R Fricke in Düsseldorf entstanden. An den Wänden in einer Ecke entwächst aus dem Boden eine blau gestreifte Berglandschaft aus Bettdecken, in deren Zentrum wir uns befinden. Die Bettdecke vermuten wir in einem Bett im Schlafzimmer. Genau genommen wird in Munro der intimste Raum unserer privaten Sphäre zur Bühne. Die Intimität im Bild wird durch die Verwendung von Kugelschreiber verstärkt. Ein Zeichenutensil, das keine großen Gesten zulässt, sondern die Nähe der Zeichnerin bei der Entstehung ebenso fordert wie vom Betrachter beim Folgen der gezeichneten Spuren. So weist dieses Bild eine doppelte Form der Intimität auf. Dennoch, und hierin ist Munro die Ausnahme, die die Regel bestätigt, hält die in der Zeichnung erzeugte Haptik der Bettdecke uns nicht lang, sondern wandelt sich zu Tälern und Gipfeln einer Berglandschaft in Schottland. Das Bild ist stärker als das der Wölbungen in der Bettwäsche. Wir zoomen raus und gehen wieder auf Abstand.
Die Welt wie sie ist und erscheint, zu zergliedern, damit fülle ich meine Einsamkeit aus, eine, meine eigene von den Milliarden Einsamkeiten… So schreibt Thomas Bernhard 1965 in einem Zeitungsartikel über den rettenden Rückzug. Die kühle Ruhe und Einsamkeit seiner kargen Räume ermöglichen ihm das Schreiben. Seine Romane, deren Umdrehungspunkt immer die innere Erregung der Figuren und eine eskalierende Verzweiflung ist, fordern diese Ruhe ein. Auch außerhalb der weißen Räume herrscht der laute Irrsinn. Die Zergliederung dieser distanzlosen Welt liegt den literarischen Diagnosen Bernhards zugrunde. Unruhe. Sie entsteht in uns, wenn wir uns nicht mehr auf sicherem Terrain befinden. Sie ist ein Gefühl das auf ein Fehlen hindeutet: Mangel an Ruhe, Lücken im Raum, Pausen in der Zeit. Unablässig sind wir mit dem Vervollständigen beschäftigt. Ergriffen von einem Horror Vacui operiert unser Bildgedächtnis an jeder offenen Stelle, implantiert Bilder, hält uns inmitten des Geschehens fest. Der Abstand dient der Beruhigung.
Die Einsamkeit – und zwar die eigene – ist die Rettung. Meine eigene von den Milliarden. Darin finden wir auch die Beruhigung, dass die Einsamkeit eine Bedingung ist, die wir teilen, die eine Möglichkeit darstellt. Die Möglichkeit des Rückzugs, aber auch die Möglichkeit der Überraschung wenn sich unbekannte und bekannte Bildern verschränken. Wenn wir uns darin wiederfinden und verbinden. Lost and found.